17.8.2008: Apg. 6, 1-7 — Baumann

13. Sonntag nach Trinitatis 2008,
Predigttext: Apg 6,1-7 (VI. Reihe)

Gnade sei mit euch
und Frieden von GOtt, unserem Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.
Amen.

Liebe Gemeinde!

Einmütig ist das Stichwort, das die ersten Kapitel der Apostelgeschichte durchzieht. Einmütig verharren die Apostel nach der Himmelfahrt Christi mit den anderen im Gebet. Einmütig verharren die Glaubenden nach der Bekehrung zu Pfingsten täglich im Tempel, harren aus bei der Lehre der Apostel und im gemeinsamen Mahl in der Gemeinde. Alles ist ihnen gemeinsam, sie verkaufen ihre überflüssige Habe und teilen nach Bedarf aus. Einmütig betet die Gemeinde nach Gefangennahme und Freilassung von Petrus und Johannes, und freimütig reden sie das Wort GOttes. Ein Herz und eine Seele ist die Menge der Glaubenden. Es gibt keine Bedürftigen unter ihnen.

Das ist ganz der Duktus der Apostelgeschichte. Und so mögen es viele von uns auch im Hinterkopf haben, wenn sie sich die Anfänge unser christlichen Bewegung vorstellen. Manche bekommen da vielleicht sogar ganz glasige Augen, wenn sie an dieses Bild des Neuen, des Aufbruchs denken. Da mußten keine Kirchen renoviert oder Erzieherinnen eingestellt oder Konfis gebändigt werden, da mußte nicht auf sog. Weihnachtschristen gewartet werden. Da war alles lebendig, spontan und gemeinschaftlich.

Doch dieses Bild vom harmonischen Anfang, das sicherlich auch viele von uns so gerne hätten, trügt. Im 6. Kapitel der Apostelgeschichte taucht bereits ein erheblicher Mißton auf. Es kommt zu einem Murren zwischen griechischen und hebräischen Judenchristen in der urchristlichen Gemeinde zu Jerusalem. In den Versen 1-7 heißt es:

In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung. Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, daß wir für die Mahlzeiten sorgen und darüber das Wort GOttes vernachlässigen. Darum, ihr lieben Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll heiligen Geistes und Weisheit sind, die wir bestellen wollen zu diesem Dienst. Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben. Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Judengenossen von Antiochien. Diese Männer stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten die Hände auf sie. Und das Wort GOttes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam.

Der Herr segne an uns sein Wort. Amen.

Liebe Gemeinde!

Was war geschehen – oder vor allem, wie konnte das geschehen, daß dieses Bild vom harmonischen, konfliktfreien Leben einen solch unschönen Riß bekommen hat.
Nun, zunächst macht der Text einmal die jüdischen Wurzeln der ersten christlichen Gemeinschaft in Jerusalem deutlich. Noch sind keine klaren und endgültigen Entscheidungen in der urchristlichen Szene getroffen. Die Anhängerinnen und Anhänger des Jesus von Nazareth treffen sich noch immer an den jüdischen Versammlungsorten ihr vorchristlichen Existenz.
Die Zwölf um Petrus, Jakobus und Johannes sind täglich zum Gebet im Tempel. Sie sind Hebräer, weil sie schon immer im jüdischen Heimatland leben und wie Jesus aramäisch sprechen. Für einen Hebräer ist es selbstverständlich, daß im Jerusalemer Tempel gebetet wird und die Bedürftigen hier versorgt werden. Das bleibt auch so, wenn sich solche ein Hebräer der Jesusbewegung angeschlossen hat.
Gleichzeitig gibt es in Jerusalem griechischsprachige Juden, die von außerhalb ins jüdische Land gekommen sind und sich wie zuvor in ihrer Heimatstadt in einer Synagoge treffen. Dabei existieren in Jerusalem etliche solcher Synagogen, ohne daß sie etwa einen gemeinsamen Dachverband gegründet hätten. Unter diesen jüdischen Hellenisten gibt es auch Jesusanhänger. Sie treffen sich nach ihrer Bekehrung zu Jesus weiterhin in ihrer vertrauten Synagoge.
So hat sich weder der hebräische noch der hellenistische Teil der Jesusbewegung verselbständigt und von seiner jüdischen Herkunft verabschiedet. Und auch wenn die Hellenisten dem Tempel weniger verbunden sein mögen, so sind sie wohl nur schwach an die griechische Kultur angepaßt. Es ist sicherlich falsch, zu vermuten, daß sie gegenüber der Tora – den Weisungen Mose – besonders locker eingestellte Menschen wären. Wir haben sie uns eher als ältere und fromme Diaspora-Juden mit griechischer Muttersprache vorzustellen, die nach Jerusalem kamen, um hier ihren Lebensabend zu verbringen. Gerade weil sie so fromm sind, wollen sie auch in der heiligen Stadt beerdigt sein. Und hier sind sie nun Anhänger der Jesus-Bewegung geworden. Wenn nun die Männer zuerst sterben, bleiben ihre Witwen ohne Angehörige in der fremden Stadt zurück.
Daß sie sich weiterhin in ihren griechischsprachigen Synagogen aufhalten, verstärkt nun freilich ein sozialfürsorgerisches Problem. Weil die Hebräer selbstverständlich davon ausgehen, daß die Gläubigen zum Tempel kommen, versorgen sie ihre notleidenden Glaubensgeschwister natürlich auch hier. Das liegt einfach in der Logik ihrer Anschauungen. Da aber die Hellenisten nicht zwangsläufig im Tempel erscheinen, haben sie auch nicht Anteil an der Sozialhilfe an diesem Ort. Die hellenistischen Witwen werden schlicht nicht versorgt. So murren sie in ihren Synagogen wie das hungrige Volk Israel in der Wüste.
Die Apostel kommen also unter Entscheidungsdruck. Zwei Gruppen brauchen eine gemeinsame Lösung. Hier beweisen sie Weisheit. Sie brechen keinen dogmatischen Streit über die christliche Bedeutung des Jerusalemer Tempels vom Zaun. Sie beharren nicht darauf, daß sich alle Gläubigen hier zu versammeln hätten. Statt dessen kommt die Lösung aus dem Kreis der bisher Vernachlässigten. Sieben Männer sollen ausgesucht werden. Die Siebener-Zahl geht zurück auf die gleiche Anzahl, die üblicherweise den Ortsvorstand einer Synagogengemeinde bildete. Durch Gebet und Handauflegung werden sie voll akzeptierte Partner und vor möglichen Vorwürfen und Bestreitung ihrer Kompetenz geschützt.
Klargestellt ist jetzt, daß die Hebräer weiterhin dem Tempel verbunden bleiben und dort auch weiter für die Sache Jesu werben. Im Glauben an Jesus bleiben sie den Hellenisten geistlich verbunden. Diese haben jetzt freie Bahn, ihre Sozialfürsorge sachgerecht intern zu lösen. Das schließt Verkündigung und Mission nicht automatisch aus. Gerade aus dem hellenistischen Kreis kommt mit Stephanus einer der ersten missionierenden Blutzeugen.
So liegt unser heutiger Predigttext nicht ganz im Duktus des Sonntagsmottos vom Barmherzigen Samariter. Es geht weniger um soziales Engagement im engeren Sinne oder die Frage, wer mein Nächster ist, dem ich zu helfen habe. Es geht hier viel mehr um die friedliche, sachgerechte Lösung interner Konflikte der jungen Jesusbewegung. Das kann aber auch uns sehr guttun. Denn gerade der geschilderte Konflikt verträgt sich nur schwer mit – von Sozialromantik geprägten – Sehnsüchten nach Echtheit und Ursprünglichkeit. Dagegen hält das eben Gehörte ein kleines Aha-Erlebnis für uns bereit. Ja, fast mit Erleichterung läßt sich denken: Sogar in der ersten Gemeinde gab es Ärger. Unüberhörbar war das Murren.
So zu denken erleichtert von einem schweren Druck. Das Bild einer harmonischen Gemeinschaft mag sehr schön und edel sein. Doch wer es zu sehr verinnerlicht hat, reibt sich auf Schritt und Tritt daran, daß es bei uns nicht so ist. Denn der Wunsch nach einem konfliktfreien Leben in der Kirche geht nicht in Erfüllung. Wer mit offenen Augen und Ohren in der Kirche lebt, dem begegnet manch Ärger und Konfliktstoff.
Da wurden Frauen nach dem Krieg übergangen bei der Verteilung von Care-Paketen – und sie klagen noch heute bitter darüber und haben sei nie verwunden. Flüchtlinge und Aussiedler schmerzt es ,wenn ihnen bei ihren Problemen, sich einzuleben, wenig Verständnis entgegengebracht wird. Alleinstehende klagen darüber, daß sie schon lange am Ort wohnen, aber noch nie von kirchlichen Mitarbeitern Besuch gehabt haben. Sie alle können diese Beschwerdeliste verlängern. Denn Sie kennen sicherlich alle den Ärger von Menschen, die sich in der Kirche vernachlässigt fühlen.
Was tun? Genau hier kann uns die Apostelgeschichte weiterhelfen: Gemurrt wurde schon in der ersten Gemeinde. Wie leicht wäre es gewesen, dies zu unterschlagen. Und schon wäre ein verklärtes Bild von Kirche fertig gewesen. Aber dann hätten wir immer denken müssen: Ach, unsere Kirche ist nicht so. Da menschelt es immer wieder. Deshalb müssen wir sie halt dem Idealbild anpassen. Es ist aber auf Dauer sehr, sehr mühsam, die Kirche nach einem Idealbild erziehen zu wollen. Solches geht auch in einer Beziehung schief. Wenn ich meinen Partner, meine Partnerin nach einem Wunschbild erziehen möchte, führt das meistens zu Enttäuschungen und letztens scheitert die Beziehung.
Was dann? Unser heutiges Beispiel zeigt uns einen besseren Weg. Es nimmt das Wunschbild weg und hilft uns, mit der wirklichen Gemeinschaft zu leben. Natürlich gibt es da Ärger und Spannungen. Aber sie können fruchtbar werden!
Den Aposteln kommt das Murren zu Ohren. Interessanterweise sagt kein Apostel: „Seid still!“ so zu reden gehört sich nicht in einer christlichen Gemeinschaft. Das wird nicht geklagt. Ihr müßt den Neid auf andere ablegen.“ Statt solche Maulkörbe zu verteilen, rufen sie eine Gemeindekonferenz zusammen. Sie lassen die Beschwerden zu und nehmen sie ernst. Sie überlegen, was daran zu ändern ist. So kann Ärger fruchtbar werden. Mit dem Ärger ist es ein wenig wie mit dem Mist. Auf einem großen Haufen stinkt er. Doch übers Land verteilt, wirkt er fruchtbar. Wird der Ärger immer weiter angehäuft, so nützt er niemandem – auch der Kirche nicht. Wer seine Kirche liebt, der verteilt den Ärger. Der sucht nach der passenden Stelle, wo er hingehört. Der unterdrückt seine Kritik an der Kirche nicht. Der läßt nicht locker, aber an der richtigen Stelle. Das muß nicht immer der Pfarrer, die Pfarrerin sein. Es bessert sich nichts, wenn der Ärger an der falschen Stelle abgeladen wird. Sich aber Gleichgesinnte zu suchen, kann aus dem alten Trott heraushelfen. Denn es ist gut, auf Eingefahrenes oder Mißstände aufmerksam gemacht zu werden. Kein Mensch kann allein alles überblicken und schaffen. Es ist gut, wenn jemand sagt, wo einzelne oder ganze Gruppen bei uns übersehen werden. Ganz ohne böse Absicht, nur weil sie auch unserem eigenen Blickfeld geraten sind.
Manchmal sind kirchliche Mitarbeiter ja geradezu froh, wenn eine Beschwerde offen auf den Tisch gelegt wird. Endlich können sie nämlich aussprechen, wozu sie allein nicht den Mut gehabt hätten. Liegt eine Beschwerde auf dem Tisch, so ist es befreiend sagen zu können: „Ich sehe ja ein, daß diese Menschen nicht zu kurz kommen sollten. Aber ich schaffe es nicht allein. Mein Tag hat auch nur 24 Stunden.“ Schon die Apostel konnten zugeben: „Die Arbeit in der wachsenden Gemeinde wächst auch uns über den Kopf. Wir schlagen vor, die Arbeit zu teilen.“
Und in unserem Beispiel kommt die Lösung aus dem Kreis der zuvor Vernachlässigten. Sie werden in ihre Aufgaben unter Handauflegung eingesetzt, wie es bereits Mose bei Josua tat, um ihn in sein Amt einzusetzen. Es gibt Menschen, die denken sehr gern an den Augenblick, als ihnen die Hand aufgelegt wurde. Es war am Tag, als sie für eine Aufgabe eingesetzt wurden. Diese Berührung hat ihnen gesagt: Mich und meinen Leib braucht GOtt. Ein Wärmestrom von ihm geht durch alle meine Glieder. Diese Körpersprache ist für mich verbunden mit einem großen Glücksgefühl. Nun weiß ich wozu ich da bin. Jetzt weiß ich es wieder. Auf solch eine feierliche Einsetzung können die meisten unter uns zwar selten bewußt zurückblicken. Aber es gab ihn. Am Tag der Taufe oder am Tag der Einsegnung. Da hat GOtt in zärtlicher Körpersprache zu Ihnen gesagt: Ich bin bei dir und ich brauche dich. Mit allem, was in dir steckt, brauche ich dich für meine Kirche. Und ich gebe dir die Kraft, die du dazu brauchst.
Schön, schön, ließe sich jetzt sagen: und die Witwen? Selbst in unserer lebensnahen Geschichte haben sie eigentlich keine Gesichter, keine Stimme. Wir vernehmen nur ihr Murren, mehr nicht. Ein Gedicht von Maria Johnen, entstanden in einer Seniorenschreibwerkstatt, kann ihnen da eine kleine, leise Stimme geben:

Einsam
Du bist tot.
Das Haus, das wir bauten, ist leer.
Kein Lachen,
kein Rufen,
kein Singen mehr.
Wo nehm’ ich die Kraft
zu tragen her?
Das Leben,
jeden Tag,
jede Nacht,
jede Stunde.
Gott steh mir bei,
gib auf mich acht,
schließe die Wunde.

Was wurde aus den Witwen, hat GOtt ihre Wunden wirklich geschlossen? Die Apostelgeschichte berichtet jedenfalls nichts weiter über das Geschick dieser Jerusalemer Frauen. Es scheint, als hätten sie keine Rolle mehr gespielt. Sie werden uns hier als bloße Empfängerinnen von Almosen vorgestellt. Es scheint so, als dienten lediglich die sieben Männer aktiv. Doch so wie wir alle Kirche sind und wir alle unseren Platz darin haben, so werden auch die Witwen ihren Platz gehabt haben. Denn in der Apostelgeschichte wird ja auch an späterer Stelle vom Witwenkreis in Joppe berichtet, der sich um Tabita gebildet hatte. Diese Frauen erfüllen dort genau die Aufgaben, die in unserem Predigttext einerseits den Aposteln, andererseits den sieben Männern zugewiesen sind. Dazu gehören Gebet und Fürbitte für die ganze Gemeinde, die Verkündigung der Frohen Botschaft Christi, Unterricht für jüngere Frauen in allen Fragen des Lebens und Glaubens. Dazu noch Hausbesuche: Menschen anhören, Menschen trösten und ermutigen, für Menschen sorgen, denen das Nötige zum Leben fehlt. So sind aus den Betroffenen Beteiligte, selbständig Handelnde geworden.

So wie jene Witwen als fröhliche Mitarbeiterinnen am Reich GOttes dargestellt sind, so können auch wir fröhlich sagen: Wir alle sind Kirche. Wir sind dazu eingesegnet und haben unseren eigenen, ganz individuellen Platz. Daß wir diesen Platz immer wieder für uns finden, das wünsche ich uns allen.

Und der Friede GOttes,
welcher höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsre Herzen und Sinne
in Christus Jesus.

Amen.

Dipl.-Theol. Andreas Baumann