2. Pfingstfeiertag 2012 — Koesling — Eph. 4,11-15

Liebe Gemeinde,

„Was fällt Ihnen eigentlich ein? Zu Pfingsten, meine ich.“ Diese Frage wird von Journalisten Jahr für Jahr gestellt. Dabei kommen einige der Befragten über „freie Tage und Ur­laub“, „Frühkon­zert“ und „Pfingst­ochse“ nicht hinaus. Literaturkenner pfle­gen Goethes Reine­ke Fuchs zu zitie­ren: „Pfingsten, das liebliche Fest war gekom­men…“ Und Alt-Philologen erklä­ren, Pfingsten kom­­­me von pentekoste πεντηκοστή, das heiße: der 50., zu ergänzen sei „Tag“ — der 50. Tag nach Os­tern.

Es ist schon einige Jahre her, da startete der SPIEGEL eine Umfrage: „Wissen Sie, was Chris­­ten Weih­nachten, Ostern und Pfingsten eigentlich feiern?“, da antworteten für Weih­nachten 82 und für Ostern 70% richtig; was Pfingsten angeht, entschieden sich 75% der Befragten für eine falsche oder gar keine Antwort. Dazu passen so richtig die Sät­ze des Schriftstellers Walter KEMPOWSKI: „Zu Pfingsten ist meist gutes Wetter. Da geht die ganze Familie spazieren und freut sich, dass bald der Sommer kommt. Warum wir das Pfingstfest feiern, ist nicht so leicht zu erklären. Zu Weih­nachten ist Jesus gebo­ren, zu Ostern ist er gestorben und wieder lebendig geworden. Aber Pfing­sten? Unsere El­tern wissen es, die können uns das sagen.“

Sagen kann das natürlich heute auch jeder, der in den Gottesdienst kommt: Pfingsten ist das Fest des Heiligen Geistes. Wir erinnern uns an die Apostelgeschichte, als sich Zun­gen wie von Feu­er auf die versammelten Jünger setzten und der Heilige Geist die Men­ge erfüllte. Menschen aus aller Her­ren Länder hörten sie dann in ihrer jeweiligen Mut­ter­sprache reden. Pfingsten — die christ­li­che Kirche ward gegründet. Also: herzlichen Glück­wunsch zum Geburtstag, Kirche!
Das alles sei vorausgeschickt, damit Sie sich nicht über den heutigen Predigttext wun­dern, der da im 4. Kapitel des Epheserbriefes in den Versen 11-15 steht:

Er selbst hat die Apostel, die Propheten, die Evangelisten, die Hirten und Leh­rer ge­ge­ben zur Zurüstung der Heiligen für ein Werk tätiger Nächs­ten­liebe, für den Aufbau des Leibes Christi, bis wir alle zur Einheit des Glau­bens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, zu einem rei­fen und erfahrenen Menschen, zu einem Ausmaß an Fülle Christi, damit wir nicht unmündigen Kindern gleich seien — durch jeden Wind der Lehre im betrüge­ri­schen Spiel der Menschen hin- und hergeworfen und schwind­lig­, in Arglist, die auf Täuschung aus ist — , sondern dass wir — die Wahrheit in Liebe redend — in allem auf ihn hinwachsen, auf ihn, der das Haupt ist: Christus!

Ich sag’s Ihnen gleich: Das war ein Text ohne Punkt und — mit wenigen — Kommata. Das war ein Text, dessen Form und dessen Inhalt aufeinander abgestimmt waren. Aber: War das auch der Text für eine Pfingstpredigt?

Wer irgendwo neu mit seiner Arbeit beginnt, muss eine Einstandslage geben. Die Pre­miere ei­nes Theaterstückes ist immer noch etwas Besonderes. Und: Wer vergisst schon sei­ne erste gro­­ße Liebe?

Und so ist dann heute aber auch die festlich-feierlich-fröhliche Stimmung der Grün­dungs­mit­glie­der wieder etwas in den Hintergrund gedrängt. Die Premierenfeier ist vor­bei. Der Einstand auch. Wenn wir heute weiterhin an den Jahrestag der Kirchgründung den­ken, dann tun wir das im Rückblick auf die Zeit, als der Epheserbrief entstand, und mit einem Blick auf die heutige Lage.

Ein Paulusschüler — ein aus jüdischer Tradition kommender Christ — hat vor weit über 1900 Jahren die­sen Brief in Kleinasien geschrieben. Hatte es Paulus zu seiner Zeit noch schwer, den aus heidnischer Herkunft stammenden Christen eine gleichberechtigte Po­si­­tion zu verschaffen, so hatte sich inzwischen das Blatt gewendet. Christen empfanden es zunehmend als wider­sprüch­­lich, zu einer christlichen Gemeinde zu gehören und den­noch am jüdischen Brauchtum festzu­hal­ten. Und so befand sich der Schreiber in der un­an­genehmen Situation, die Kirche An­griffen von außen wie von innen ausgesetzt zu se­hen. Um sich aber gegenüber den Angriffen von außen besser behaupten zu können, muss­te die Kirche wieder zu einer Einheit in den eige­nen Rei­hen zurückfinden.

Seine demgemäßen Vorstellungen versuchte der Verfasser auch in der Form des heuti­gen Textes darzustellen: Alles in einem Satz, alles ein Leib Jesu Christi, alles eine Kir­che. Umfassend. Schwergewichtig. Nicht immer ganz übersichtlich. Oft schwer ver­ständ­lich. Aber: Das A und das O — Anfang und Ende — bildet er selbst: Jesus Christus, das Haupt, von dem alles abhängt. Lange Zeit galt medizinisch das Herz als das Kern­stück menschlichen Lebens. Wie wir wissen, sind Herzen inzwischen ersetzbar. Der Kopf aber nicht. Wenn sämtliche Gehirnfunktionen aus­set­zen, gilt der Mensch als tot! Al­les hängt vom Kopf ab, alles in der christlichen Gemeinde kann nur von Jesus Christus ab­hängen.

Und — sämtlichen Konsistorien und Gemeindekirchenräten sei’s gesagt — die Mitarbeiter der Kirche hat er — Jesus Christus, das Haupt, der Kopf — gegeben. Nannte der Verfasser im Epheserbrief noch Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer, so können wir das übersetzen in Pfarrer, Diakone, Kirchenmusiker, Küster. Sie können diese Aufzählung gern noch erweitern! Und der Autor schreibt auch, wozu gegeben: um die Christen weiterhin im wahrsten Sinn des Wortes eines Bes­seren — nämlich Gottes und Jesu Christi und des Heiligen Geistes — zu belehren! Dies in Form tätiger Nächstenliebe und des Gemeindeaufbaus. Noch immer ist es so, dass wir Christen die Welt am meisten durch Handeln überzeugen.

Nur so können wir geistlich endgültig reifen. Nur so kann uns das ganze Ausmaß gött­li­chen Wir­­­kens bewusst werden. Nur so können wir die wahre Bedeutung Jesu Christi da­mals und für un­­ser Leben heute erkennen. Nur so können wir zur Einheit des Glau­bens gelangen. Schreibt der Verfasser seinerzeit. Dahin zurückkehren, sage ich heute.

Denn hat das Christentum in der Vergangenheit überzeugt, wenn es mit Waffengewalt über an­de­re oder übereinander hergezogen ist? Stichwort: Kreuzzüge, Nordirland-Kon­flikt. Hat vielleicht die katholische Kirche dadurch überzeugt, dass sie einen Martin Lu­ther mit Acht und Bann be­leg­te, statt sich vielleicht seine kritischen Gedanken zu Eigen zu machen? Heute gehen die Kirchen wieder mehr aufeinander zu. Wie selbst beim Ka­tho­likentag in Mannheim. Wie hof­fent­lich noch zu­kunfts­weisender anlässlich des großen Reformationsjubiläums in fünf Jahren und 2019, wenn ein weiterer Ökumenischer Kir­chen­tag stattfinden soll. Ein weiterer Schritt war die gestrige Vereinigung dreier protes­tan­tischer Kirchen zur Evangelischen Kirche Norddeutschland im Rahmen eines Fest­got­­tesdienstes im Ratzeburger Dom.

Aber vorher muss auch die Einheit in unseren eigenen Reihen, in unseren Gemeinden noch wachsen. Ein­heit heißt nicht Vereinheitlichung, Vereinnahmung. Sondern heißt eben, die Vielfalt als Teil des Gemeinsamen anzuerkennen. Männer und Frauen, Junge und Alte, Laute und Leise, die Ma­cher und die, die mehr im Hintergrund wirken, die, die Gu­tes bewahren wollen, und die, die den Mut zu neuen Schritten aufbringen, die klas­si­schen Chöre und die Rockbands: Sie stehen nicht gegeneinander, sie arbeiten gemein­sam am Aufbau von Kirche.

In Vergangenheit und Gegenwart hat es auch der Kirche immer wieder an der doch von Je­sus Christus so überzeugend vorgelebten Liebe zum Nächsten und nicht zuletzt da­durch zu Gott gefehlt; aber wir haben immer noch die Chance, den Nachholbedarf zu dec­ken!

Wir haben gehört, was den Verfasser des Epheserbriefes beim Stichwort „Kirche“ be­wegt hat. Ich habe versucht, Ihnen einige meiner Gedanken zu schildern. Und ich mache Ih­nen Mut zu eige­nen Überlegungen am heutigen Geburtstag der Kirche. Was fällt Ihnen ei­­gent­lich ein? Zu Pfingsten, meine ich!

Amen.

Diakon Michael Koesling