Homilie über Psalm 74 zum Israelsonntag 2021 von Dr. Lorenz Wilkens

Vorgetragen von Marion Schubert.

Liebe Gemeinde!

Der 74. Psalm beschreibt die Auseinandersetzung seines Sprechers mit Gott um die Entweihung, Schändung und Zerstörung des Heiligtums Israels durch den Feind.

Der Psalm beginnt mit einer Frage:

Warum verwirfst du, Gott,
und warum raucht dein Zorn für immer
über die Schafe deiner Weide? 

Psalm 74,1

Es ist der wohl umfassendste, der schmerzlichste Vorwurf, der vorgestellt werden konnte:

Gott habe sein Volk verworfen – seine Herde.

Der in V. 2 folgende Appell erläutert:

Du hast sie doch vor langer Zeit erworben,
zum Eigentum erwählt
wie auch den Zion, welcher deine Wohnung ist.

Psalm 74,2

Ja, es ist nichts Geringeres als sein Eigentum, welches der Herr preisgab: sein Volk und sein heiliger Berg Zion – der Tempel.

So schildern es die Verse 5 – 8 des Psalms:

Wie einer, der, um Laub zu holen,
aufsteigt und ins Dickicht schlägt
mit seiner Axt,
zerschlugen sie mit Beil und Hacke
das ganze Schmuckwerk.
Sie legten Feuer an dein Heiligtum.
Bis auf den Boden haben sie entweiht
die Wohnstatt deines Namens.
Sie sprachen bei sich:
‚Lasst uns sie niederzwingen,
verbrennen alle Stätten Gottes
in diesem Land!‘

Psalm 74,5-8

„Warum?“ Die Plünderung, Schändung, Zerstörung des Tempels – ein Ereignis, dessen Brutalität und Bosheit wir nicht fassen können und die Erinnerung daran nichts hervorruft als Schmerz und kränkende Ratlosigkeit.  Nicht so jedoch der Psalm; er fragt: „Warum“ und richtet diese Frage ausdrücklich an seinen Gott.

Hier macht sich ein folgenschwerer Unterschied zwischen der Tradition Israels und der kirchlichen Überlieferung geltend:

Letztere spricht mit dem Choral:

Was Gott tut, das ist wohlgetan,
es bleibt gerecht sein Wille,
wie er fängt seine Sachen an,
will ich ihm halten stille.
Er ist mein Gott,
der in der Not
mich wohl weiß zu erhalten,
drum lass ich ihn nur walten.

EG Nr. 372 von Samuel Rodigast, 1675, 1. Strophe.

Mit anderen Worten: Nach der kirchlichen Überlieferung hat es keinen Sinn, das Handeln Gottes in Frage zu stellen. Sein Wesen ist – absolut: unbedingt gut, vollkommen, autark, unveränderlich,allmächtig.

Anders der Gott Israels: Er ist der Gott des Bundes. Er hat sich Israel als Partner erwählt. Sein Wesen und sein Wille sind nicht unveränderlich. Er lässt es zu, dass man durch Einspruch, Vorhaltung, Erinnerung und Appell auf ihn einwirkt; er lässt sich zum Ändern seines Handelns bewegen. Das Unternehmen, mit ihm zu verhandeln, gilt nicht als wirkungslose Verfehlung.

Der argumentative Zug des ‚Rechtens‘, der Vorhaltung wird in einem Moment der Struktur des Psalms besonders geltend gemacht: der Entsprechung zwischen dessen zweitem Teil – der Beschreibung des im Heiligtum angerichteten Zerstörungswerks (V. 3 – 8, s. o.) – und dem vierten Teil – dem Lobpreis der Ordnung, die er seiner Welt gegeben hat (V. 12 – 17):

Der Herr war doch mein König
von Anbeginn,
er ist es, der auf Erden hilft.
Mit deiner Kraft hast du das Meer geteilt,
den Drachen ihre Köpfe
zerschmettert auf dem Wasser.
Dein ist der Tag, dein ist die Nacht.
Alles Licht hast du geschaffen
wie die Sonne.
Der Erde gabst du ihre Grenzen
Sommer und Winter – du hast sie angeordnet.

Psalm 74,12-17

Demnach ist Gott, der Schöpfer, zugleich die Macht, die durch ihren Sieg über die Ungeheuer und Dämonen die Erde zum Ort lebbaren Lebens gemacht hat. Den Kampf gegen die Dämonen – nach der antiken Mythologie eine Sache der Heroen – stellt der Psalm als Sache Gottes vor.

Die Macht der Schöpfung heißt biblisch ‚Geist‘; das dafür stehende hebräische Wort – rûach – bedeutet auch ‚Atem‘. Der Mensch kann die Ordnung, die der Herr seinem Leben als Ort angewiesen hat, so leicht, so unwillkürlich annehmen wie die Luft, die er atmet. Die Luft ist das allgemeinste Element der erschaffenen Welt wie des Lebens der Menschen. Sie steht dafür, dass ihre Verbindung mit der Erde von ihrer Verbindung mit Gott nicht getrennt werden kann.

Diese elementare Verbindung der Menschen mit dem Schöpfer wie mit der Erde aber verkennen und verleugnen die Ungeheuer und Dämonen! Und die fremden Eroberer, die das Heiligtum Israels, die Stätte der Verehrung seines Gottes, verwüstet und zerschlagen haben – sie handelten, als hielten Dämonen sie in ihrem Bann, als wollten sie den Wahn manifestieren, die Macht des Lebens sei nichts anderes als Macht der Unterwerfung – den Wahn, das Wesen des menschlichen Zusammenlebens sei nichts als Herr-schaft.

Dagegen appelliert Israel an seinen Gott: „Sieh auf den Bund!“ (V. 20a) Der Bund – er ist das Ziel, das Zentrum des Gedankengangs, den der Psalm umfasst.

Gib nicht dem Raubtier preis
das Leben deiner Turteltaube!
Und das Leben deiner Armen,
vergiss es nicht für immer!
Sieh auf den Bund!
Voll ist das Land an allen Ecken
von Gewalttat!
Lass nicht den Unterdrückten
beschämt sich abwenden!
Der Arme, der Bedürftige –
sie sollen deinen Namen rühmen!
O Gott, steh auf
und führe deinen Kampf zu Ende!
Bedenke, wie der Niederträchtige
dich Tag für Tag verhöhnt!
Die Stimmen deiner Feinde
– vergiss nicht ihr Gebrüll,
das immer wieder aufsteigt!

Psalm 74,19-23)

Israel nennt sich Gottes Turteltaube; der Kosename bedeutet: Er liebt sein Volk zärtlich – wie ein Mann seine Freundin. Und von hier zum Bund – vom erotischen zu dem moralischen Zug des Verhältnisses zwischen Gott und seinem Volk:

„Und das Leben deiner Armen, vergiss es nicht für immer!“ (V. 19b)

Zärtlichkeit und Solidarität – zwei Momente des Bundes verbinden sich mit dem dritten: der appellierenden Erinnerung an sie. Diese drei Momente machen ihn aus: Man empfindet die Luft, die einen umgibt – die elementarste Bejahung des Lebens. Die natürliche Bestätigung des Lebens durch den Wind, den Atem Gottes, muss allgemein sein, allen zukommen; anders kann sie auch dem einzelnen nicht gelten.

Daher der Übergang von dem Dank für die erfrischende Bestätigung des eigenen Lebens zu dem schmerzlichen Appell daran, dass er allen zukommen möge, auch jenen, die ihn jetzt entbehren. Allgemein muss sie sein – allgemein wie die Luft, die wir atmen.

Liebe Gemeinde, der 74. Psalm gilt dem Durcharbeiten einer Katastrophe im Leben des Gemeinwesens Israels: der Schändung und Verwüstung seines Heiligtums. Daher denken wir unwillkürlich an den 9. Av, den Trauertag des jüdischen Volkes, an dem es sich an die Zerstörung seines ersten und seines zweiten Tempels (586 v. Chr. Geb. bzw. 70 n. Chr. Geb.) sowie an das Scheitern des Bar-Kochba-Aufstandes und die „pflügende“ Art erinnert, wie Jerusalem danach dem Erdboden gleich gemacht wurde (136 n. Chr. Geb.)

[Anm. d. Vortragenden: Hier möchte ich persönlich erwähnen, dass liberale Juden den Tempel heute als Symbol sehen zur Erinnerung, denn nach der Zerstörung sind die Gebete an die Stelle der Opfer getreten und die Thora ist das Heiligtum, in dem Gott sich offenbart.]

Doch ebenso unwillkürlich und notwendig ist die Erinnerung an die Schoah und besonders den 9.November 1938. Damals wurden in Deutschland 267 Synagogen zerstört; Als sollte der 74. Psalm höhnisch denunziert und mit Füßen getreten werden, begann der Massenmord an den Juden mit der Zerstörung ihrer Gotteshäuser.

Von hier zurück zu dem, was der Schöpfung entspricht: „Lass nicht den Unterdrückten beschämt sich abwenden! Der Arme, der Bedürftige – sie sollen deinen Namen rühmen!“ (Psalm 74,21) Amen                


Persönliche Anmerkung von Marion Schubert im Anschluss an die Homilie zu Psalm 74 von Pfr. Wilkens

Nun möchte ich noch persönlich eine Brücke schlagen zu der heutigen Lesung aus dem 2. Buch Moses 19,6a, die Sie auch auf der Einladung zu stehen haben: das Zitat:

Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern sein, ein heiliges Volk.

2. Mose 19,6a

Was ist der Bezugspunkt?

Es ging ja in der Predigt u.a. auch darum, wie Israel G‘tt an seinen Bund erinnert.

Dabei wird es Turteltaube genannt. Dabei hört es sich nicht gerade wie ein Privileg an, von G‘tt erwählt zu sein, wenn man sich dennoch scheinbar verlassen und am Boden zerstört fühlt.

Weitere Fragen stellen sich hier:

welche Aufgaben hatten Priester, was ist Heiligkeit und warum wird gerade Israel dazu auserwählt?

Diese drei Fragen möchte ich nur kurz beantworten und nicht so ausführlich, wie ein Rabbiner darüber predigen würde.

Die Priester versahen ihren Dienst an Gott im Tempel und waren die Hüter der Moral. Sie brauchten Disziplin und Selbstbeherrschung.

Ein Volk von Priestern hat nun eigentlich die Aufgabe, Vorbild für die Menschheit zu sein.

Durch das Einhalten der Gebote Gottes und das Tun seines Willens, soll es bezeugen, dass G‘tt in allem ist, also auch beim Essen, im Körper und in der Natur.

Daher darf ein Priester bzw. ein Jude nicht alles tun und nicht alles essen. 

G‘tt ist heilig, so soll der Mensch heilig sein. Aber hier auf der Erde, im Alltag.

Es wird keine Askese verlangt. Der Mensch bleibt Mensch, aber er kann alles Alltägliche zu etwas Heiligem machen.

Wenn wir uns selber beherrschen können, führ dies zur Vervollkommnung der menschlichen  Natur. Dies könnte zur Erlösung der Welt beitragen. Ein Ideal!?

Und warum gerade Israel?

Ein unbedeutendes Sklavenvolk wird von G‘tt befreit und in die Wüste geführt. Also an einen Ort, der für alle offen ist. In der Wüste werden ihm die 10 Gebote (Worte) gegeben. Nach einem schweren Weg, an einem unbedeutenden Berg, der Sinai heißt, aber heute gar nicht genau zu orten ist. Auch er wird heilig genannt, weil er eine bestimmte Bedeutung bekommt.

Das Volk hingegen nimmt einen Auftrag und somit eine Verantwortung an.

Die Erwählung ist also kein Lohn für besondere Leistungen oder Größe, also keine Bevorzugung, sondern der Auftrag den Einen Gott zu bezeugen durch Wort und Tat. Ein G‘tt der Benachteiligte beschützt, barmherzig ist und Nächstenliebe fordert.

Diese sog. Auserwählung ist durchaus von vielen Juden als Trost verstanden worden, wenn Verfolgung drohte und Ausgrenzung.

Es war eine Möglichkeit, sich selbst zu achten und auf G‘tt zu hoffen, wie es im Psalm 74 dargelegt wird.

Andererseits führte bei anderen Völkern dieser Gedanke zu Hass und Neid, weil sie Juden als überheblich betrachteten und sie selber die Erwählten sein wollten.

In unserer Zeit sind Juden und Christen aufgerufen gemeinsam zur Erhaltung sowie Verbesserung der Welt beizutragen. So sind sie alle beide erwählt und wenn sie ihren ethischen Grundsätzen folgen –

also wenn Juden aufgrund der Thora das Gute tun und Christen dem jüdischen Jesus folgen, könnte man sie beide „heilig“  nennen oder besser gesagt: die Welt heilend.

Eine gemeinsame Hoffnung. Vielen Dank für‘s Zuhören