Liebe Gemeinde,
„Was fällt Ihnen eigentlich ein? Zu Pfingsten, meine ich.“ Diese Frage wird von Journalisten Jahr für Jahr gestellt. Dabei kommen einige der Befragten über „freie Tage und Urlaub“, „Frühkonzert“ und „Pfingstochse“ nicht hinaus. Literaturkenner pflegen Goethes Reineke Fuchs zu zitieren: „Pfingsten, das liebliche Fest war gekommen…“ Und Alt-Philologen erklären, Pfingsten komme von pentekoste πεντηκοστή, das heiße: der 50., zu ergänzen sei „Tag“ — der 50. Tag nach Ostern.
Es ist schon einige Jahre her, da startete der SPIEGEL eine Umfrage: „Wissen Sie, was Christen Weihnachten, Ostern und Pfingsten eigentlich feiern?“, da antworteten für Weihnachten 82 und für Ostern 70% richtig; was Pfingsten angeht, entschieden sich 75% der Befragten für eine falsche oder gar keine Antwort. Dazu passen so richtig die Sätze des Schriftstellers Walter KEMPOWSKI: „Zu Pfingsten ist meist gutes Wetter. Da geht die ganze Familie spazieren und freut sich, dass bald der Sommer kommt. Warum wir das Pfingstfest feiern, ist nicht so leicht zu erklären. Zu Weihnachten ist Jesus geboren, zu Ostern ist er gestorben und wieder lebendig geworden. Aber Pfingsten? Unsere Eltern wissen es, die können uns das sagen.“
Sagen kann das natürlich heute auch jeder, der in den Gottesdienst kommt: Pfingsten ist das Fest des Heiligen Geistes. Wir erinnern uns an die Apostelgeschichte, als sich Zungen wie von Feuer auf die versammelten Jünger setzten und der Heilige Geist die Menge erfüllte. Menschen aus aller Herren Länder hörten sie dann in ihrer jeweiligen Muttersprache reden. Pfingsten — die christliche Kirche ward gegründet. Also: herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Kirche!
Das alles sei vorausgeschickt, damit Sie sich nicht über den heutigen Predigttext wundern, der da im 4. Kapitel des Epheserbriefes in den Versen 11-15 steht:
Er selbst hat die Apostel, die Propheten, die Evangelisten, die Hirten und Lehrer gegeben zur Zurüstung der Heiligen für ein Werk tätiger Nächstenliebe, für den Aufbau des Leibes Christi, bis wir alle zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, zu einem reifen und erfahrenen Menschen, zu einem Ausmaß an Fülle Christi, damit wir nicht unmündigen Kindern gleich seien — durch jeden Wind der Lehre im betrügerischen Spiel der Menschen hin- und hergeworfen und schwindlig, in Arglist, die auf Täuschung aus ist — , sondern dass wir — die Wahrheit in Liebe redend — in allem auf ihn hinwachsen, auf ihn, der das Haupt ist: Christus!
Ich sag’s Ihnen gleich: Das war ein Text ohne Punkt und — mit wenigen — Kommata. Das war ein Text, dessen Form und dessen Inhalt aufeinander abgestimmt waren. Aber: War das auch der Text für eine Pfingstpredigt?
Wer irgendwo neu mit seiner Arbeit beginnt, muss eine Einstandslage geben. Die Premiere eines Theaterstückes ist immer noch etwas Besonderes. Und: Wer vergisst schon seine erste große Liebe?
Und so ist dann heute aber auch die festlich-feierlich-fröhliche Stimmung der Gründungsmitglieder wieder etwas in den Hintergrund gedrängt. Die Premierenfeier ist vorbei. Der Einstand auch. Wenn wir heute weiterhin an den Jahrestag der Kirchgründung denken, dann tun wir das im Rückblick auf die Zeit, als der Epheserbrief entstand, und mit einem Blick auf die heutige Lage.
Ein Paulusschüler — ein aus jüdischer Tradition kommender Christ — hat vor weit über 1900 Jahren diesen Brief in Kleinasien geschrieben. Hatte es Paulus zu seiner Zeit noch schwer, den aus heidnischer Herkunft stammenden Christen eine gleichberechtigte Position zu verschaffen, so hatte sich inzwischen das Blatt gewendet. Christen empfanden es zunehmend als widersprüchlich, zu einer christlichen Gemeinde zu gehören und dennoch am jüdischen Brauchtum festzuhalten. Und so befand sich der Schreiber in der unangenehmen Situation, die Kirche Angriffen von außen wie von innen ausgesetzt zu sehen. Um sich aber gegenüber den Angriffen von außen besser behaupten zu können, musste die Kirche wieder zu einer Einheit in den eigenen Reihen zurückfinden.
Seine demgemäßen Vorstellungen versuchte der Verfasser auch in der Form des heutigen Textes darzustellen: Alles in einem Satz, alles ein Leib Jesu Christi, alles eine Kirche. Umfassend. Schwergewichtig. Nicht immer ganz übersichtlich. Oft schwer verständlich. Aber: Das A und das O — Anfang und Ende — bildet er selbst: Jesus Christus, das Haupt, von dem alles abhängt. Lange Zeit galt medizinisch das Herz als das Kernstück menschlichen Lebens. Wie wir wissen, sind Herzen inzwischen ersetzbar. Der Kopf aber nicht. Wenn sämtliche Gehirnfunktionen aussetzen, gilt der Mensch als tot! Alles hängt vom Kopf ab, alles in der christlichen Gemeinde kann nur von Jesus Christus abhängen.
Und — sämtlichen Konsistorien und Gemeindekirchenräten sei’s gesagt — die Mitarbeiter der Kirche hat er — Jesus Christus, das Haupt, der Kopf — gegeben. Nannte der Verfasser im Epheserbrief noch Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer, so können wir das übersetzen in Pfarrer, Diakone, Kirchenmusiker, Küster. Sie können diese Aufzählung gern noch erweitern! Und der Autor schreibt auch, wozu gegeben: um die Christen weiterhin im wahrsten Sinn des Wortes eines Besseren — nämlich Gottes und Jesu Christi und des Heiligen Geistes — zu belehren! Dies in Form tätiger Nächstenliebe und des Gemeindeaufbaus. Noch immer ist es so, dass wir Christen die Welt am meisten durch Handeln überzeugen.
Nur so können wir geistlich endgültig reifen. Nur so kann uns das ganze Ausmaß göttlichen Wirkens bewusst werden. Nur so können wir die wahre Bedeutung Jesu Christi damals und für unser Leben heute erkennen. Nur so können wir zur Einheit des Glaubens gelangen. Schreibt der Verfasser seinerzeit. Dahin zurückkehren, sage ich heute.
Denn hat das Christentum in der Vergangenheit überzeugt, wenn es mit Waffengewalt über andere oder übereinander hergezogen ist? Stichwort: Kreuzzüge, Nordirland-Konflikt. Hat vielleicht die katholische Kirche dadurch überzeugt, dass sie einen Martin Luther mit Acht und Bann belegte, statt sich vielleicht seine kritischen Gedanken zu Eigen zu machen? Heute gehen die Kirchen wieder mehr aufeinander zu. Wie selbst beim Katholikentag in Mannheim. Wie hoffentlich noch zukunftsweisender anlässlich des großen Reformationsjubiläums in fünf Jahren und 2019, wenn ein weiterer Ökumenischer Kirchentag stattfinden soll. Ein weiterer Schritt war die gestrige Vereinigung dreier protestantischer Kirchen zur Evangelischen Kirche Norddeutschland im Rahmen eines Festgottesdienstes im Ratzeburger Dom.
Aber vorher muss auch die Einheit in unseren eigenen Reihen, in unseren Gemeinden noch wachsen. Einheit heißt nicht Vereinheitlichung, Vereinnahmung. Sondern heißt eben, die Vielfalt als Teil des Gemeinsamen anzuerkennen. Männer und Frauen, Junge und Alte, Laute und Leise, die Macher und die, die mehr im Hintergrund wirken, die, die Gutes bewahren wollen, und die, die den Mut zu neuen Schritten aufbringen, die klassischen Chöre und die Rockbands: Sie stehen nicht gegeneinander, sie arbeiten gemeinsam am Aufbau von Kirche.
In Vergangenheit und Gegenwart hat es auch der Kirche immer wieder an der doch von Jesus Christus so überzeugend vorgelebten Liebe zum Nächsten und nicht zuletzt dadurch zu Gott gefehlt; aber wir haben immer noch die Chance, den Nachholbedarf zu decken!
Wir haben gehört, was den Verfasser des Epheserbriefes beim Stichwort „Kirche“ bewegt hat. Ich habe versucht, Ihnen einige meiner Gedanken zu schildern. Und ich mache Ihnen Mut zu eigenen Überlegungen am heutigen Geburtstag der Kirche. Was fällt Ihnen eigentlich ein? Zu Pfingsten, meine ich!
Amen.
Diakon Michael Koesling