Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.
Liebe Gemeinde, wahrscheinlich haben Sie das auch schon erlebt: Zwischen all der Werbung im Briefkasten entdecken Sie im letzten Moment einen verdächtig nach Privatpost aussehenden Umschlag. Sie schauen auf den Absender und staunen: „Nanu, der schreibt dir?“
In den letzten zwanzig Jahren hatte ich vom Briefschreiber so gut wie nichts gehört und gesehen. Und dann erhielt ich eine schriftliche Einladung. Eine Einladung zum 50. Geburtstag. Zu vielen der geladenen Gäste muss wohl der Kontakt ähnlich lange geruht haben wie zu mir, jedenfalls war dem Brief ein Blatt mit Geschehnissen vergangener Monate und Jahre beigelegt. Der Jubilar hatte das Programm seiner Feier in fünf nicht immer gleich lange Abschnitte seines Lebens eingeteilt, und zu jedem Teil trugen Gäste mehr oder weniger Erheiterndes bei, er selbst kommentierte — gleichsam neben sich stehend — vieles aus seinem Leben distanziert kritisch-ironisch. Doch bei allem, was da auch mal etwas humorvoll-selbstkritisch klingen sollte, konnten die Gratulanten zuweilen Unzufriedenheit heraushören.
Vor etwa vierzig Jahren, als ich Bee-Jay — so nannten wir ihn früher — in der Jugendarbeit meiner damaligen Gemeinde kennen lernte, galt er bald als ein junger Vertreter eines doch leicht evangelikalen, zumindest konservativen Frömmigkeitsstils. An der Geburtstagsfeier nun konnten meine Familie und ich nicht bis zum Schluss teilnehmen, und wir wissen auch nicht, was am Abend dann noch so alles kam, aber bei der Predigtvorbereitung für heute musste ich wieder an diesen Sonnabend denken. Daran denken, wie der Jubilar auf sein Leben zurückblickte, was er erwähnte, was nicht, und mir kam in den Sinn, dass auch Paulus vielleicht anlässlich eines solchen Geburtstags diesen Teil seiner Epistel hätte verfasst haben können. Doch halt: Der Verfasser des Timotheus-Briefes ist ja gar nicht Paulus. Viel später erst hat einer seiner Schüler ihm zu Ehren seinen Namen als Pseudonym verwendet. Aber sein Rückblick — an Stelle des Paulus gedacht — beginnt mit einem Aufblick, einem Aufblick voller Dank und voller Bewunderung: Ich danke unserm Herrn Christus Jesus, der mich stark gemacht, für treu erachtet und in das Amt eingesetzt hat. Das Aufblicken ist in diesen Zeiten nicht mehr so jedermanns/jeder Frau Sache — Kunststück: Zu wem kann man heutzutage schon aufblicken? Es fällt dann auf, wenn jemand die ganze Zeit — womöglich sozusagen betreten — auf den Boden geschaut hat. Oder gelegentlich seinen Blick beim Lesen vom Manuskript löst … Aber das ist nicht der Aufblick voller Dank und Bewunderung! Es hat ihn in der deutschen Geschichte ja immer wieder gegeben, diesen Aufblick. „Leider!“, müssen wir heute sagen. Das war zwar der richtige Blick, aber das falsche Objekt. Nicht Gott, sondern Götze. Ein Goldenes Kalb. Dabei ist solch Blick doch ein Vertrauensbeweis. Aber nicht jeder verdient das Vertrauen. Wir haben vor einigen Jahren diesen Blick oft gesehen, wenn unser kleiner Sohn am Boden krauchte und seine ersten Schritte lernte, oder in letzter Zeit, wenn er auf uns zurannte und dabei zu uns hoch schaute. Vielleicht sollten wir alle als Kinder Gottes auch immer wieder so zu unserm himmlischen Vater aufblicken: voller Dank, voller Bewunderung, voller Vertrauen.
Voller Dank, weil Gottes Handeln an uns in einem dem Aufblick folgenden Rückblick umso unbegreiflicher würde. Das Handeln und Wandeln des Paulus wird uns ja als das eines Lästerers und Verfolgers, eines Frevlers und Gewalttäters geschildert. Nicht jedem von uns wird aber von einem Moment zum andern — wahrlich wie vom Blitz getroffen — klar, wie verheerend sein Handeln bisher war. Vielleicht ist uns auch deshalb nicht immer die schnelle Einsicht in die Barmherzigkeit und Gnade unseres Heilands, in seine Güte gegeben, wie wir sie doch ohne eigenes Verdienst empfangen. Denn wenn wir bei Gelegenheit auf unser Leben zurückblicken — kein Blick zurück im Zorn, aber in bewusster Erinnerung — , dann sollten wir sehen, was da wirklich unvergesslich war. Das ist eben nicht nur all das Schöne, was wir nie vergessen werden, sondern auch manch Hässliches, was andere uns nicht vergessen. Es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, dass Schuld erst erkannt wird, wenn das Ereignis vorbei ist. Dass wir erst später merken, welche Ignoranten wir waren — voller Unkenntnis, voller Unfähigkeit, voller Unglauben und auf der falschen Spur. Wir denken meist eher an kaputte Existenzen und ihr Leben in der Gosse, an die vielen Verletzungen der guten Sitten, wie wir sie in der Öffentlichkeit wahrnehmen, an die großen Unanständigkeiten vermeintlich großer Leute. Aber wenn uns im Rückblick unsere eigenen vielen kleinen Worte und Taten, geschweige denn Gedanken des Alltags einfielen, die unsere Schuld klar machten, dann merkten wir erst, wie viel Barmherzigkeit uns widerfahren, an uns geschehen ist und wie reich die Gnade unseres Herrn für uns bisher ausgefallen ist.
An dem Punkt angelangt, sollten wir — jeder Einzelne — nicht beim Auf- und beim Rückblick stehen bleiben. Das wäre so, als ob es auch dem Christen eigentlich nur um sich selbst und seine gute Position bei Gott ankäme. Da fehlt dann schon die dritte Komponente. So wie Paulus zum Urbild des Sünders geworden ist, der dann mit den Worten seines Schülers erkannt hat, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, um — vielleicht Paulus an erster Stelle stehend, aber ansonsten — die Sünder, die Schuldbeladenen zu retten. Der dankbar erkennt, dass an ihm zuerst durch Christi Geduld dessen Barmherzigkeit geschehen ist. So sollen dann aber alle an Jesus Christus glauben, um zum ewigen Leben zu gelangen. Das heißt, dass die dritte Komponente „der andere“ ist. Um ihn ins Blickfeld zu bekommen, brauchen wir also nach dem Aufblick zu Gott und dem Rückblick in die eigene Vergangenheit einen weiteren, einen Panorama- , einen Rundblick. Dazu gehört dann wohl auch weniger Rückblick als Rücksicht. Aber auch Vor-Sicht! Am Anfang unseres Predigttextes stand auch der Dank für das Einsetzen in das Amt. Nach diesem Einsetzen ins Amt — des Apostels und des Briefschreibers, des Bischofs und des Pfarrers, des Diakons und des Kirchenältesten — kommt der Einsatz im Amt. Und da ist nicht die Frage, ob ich Tag und Nacht wach bleiben und mich abrackern muss, dass mein Engagement zum schieren Selbstzweck wird. Sondern dass ich zusehe, mir keine Feind-Bilder aufzubauen. Dass ich den anderen nicht aus dem Blick verliere. Dass ich ihm in die Augen schauen kann. Und dass ich darauf achte, dass es ihm zusehends besser geht.
Die Vergangenheit und die Gegenwart haben wir bei der Durchsicht unseres Textes im Blick gehabt. Wir haben uns seinen Inhalt durch Aufblick, Rückblick und Rundblick angeeignet. Und die Zukunft? Dafür gestatten wir uns einen Ausblick. Den Blick auf Unbekanntes. Was unbekannt ist, löst in uns oft Ängste aus. Diese Ängste kann uns kein Mensch nehmen. Wir können sie nur bei dem abladen, der nicht nur alles geschaffen hat und die Welt in seiner Hand hält, sondern der auch schon die fernste, noch so unvorstellbare Zeit in seinem Blick hat: Gott! Ihm gilt der Ausblick im letzten Vers unseres Textes. Dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit!
Feiern Sie in absehbarer Zeit auch einen runden Geburtstag? Haben Sie sich vorgenommen, demnächst in den Annalen Ihres Lebens zurückzublättern? Soll das dann auch Auswirkung für Ihre Zukunft haben? Es liegt schon eine Reihe von Jahren zurück, da hat ein Bearbeiter unseres Predigttextes versucht, mit einem zeitgemäßen Wortlaut die Verse zu einer Lebensüberschrift zu gestalten. Vielleicht auch zu Ihrer? Jesus Christus hat mir Kräfte gegeben, die ich so nicht gekannt habe. Er hat mir Ausdauer geschenkt, die ich selber so nicht hätte. Und er hat mir Aufgaben gegeben, die ich mir selber nicht gesucht hätte. Das hat mein Leben verändert. Meine alten Überschriften wie: „Du bleibst, wie du bist!“ oder „Es hat alles keinen Zweck!“ oder „Was kann ein einzelner schon dagegen tun?“, diese Überschriften sind hinfällig. Denn sie sind Ausdruck meines Misstrauens und meines Unglaubens. Mein Leben ist in Wahrheit reicher, als ich es vorher gesehen habe. Wahrlich und wahrhaftig: Da beginnt mein Glaube: Jesus hat, wo mein Leben Leiden war, geteilt und geheilt. Er ist mir gegenüber so unendlich geduldig, da sollte ich mit meinem Leben ungeduldig werden? Eigenartig — bis jetzt habe ich häufig nur geklagt. Und nun gelingt es mir sogar schon, gute Seiten zu entdecken. Das macht mich dankbar. Gott bestimmt mein Leben — und das Leben dieser Welt. Gott allein sei Ehre und Lobpreis in Ewigkeit.
Amen.
Diakon Michael Koesling