20.6.2010: 1. Tim 1, 12-17 — Koesling

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.

Liebe Gemeinde, wahrscheinlich haben Sie das auch schon erlebt: Zwischen all der Wer­bung im Briefkasten entdecken Sie im letzten Moment einen verdächtig nach Pri­vatpost aussehenden Umschlag. Sie schauen auf den Absender und stau­­nen: „Na­nu, der schreibt dir?“

In den letz­ten zwanzig Jahren hatte ich vom Brief­schrei­ber so gut wie nichts ge­hört und gese­hen. Und dann erhielt ich eine schriftliche Einladung. Eine Einladung zum 50. Ge­burts­­tag. Zu vielen der ge­­­ladenen Gäste muss wohl der Kontakt ähn­lich lan­ge ge­ruht haben wie zu mir, jedenfalls war dem Brief ein Blatt mit Ge­scheh­­nissen ver­­gan­gener Mo­na­te und Jahre beigelegt. Der Jubilar hatte das Pro­gramm seiner Fei­­er in fünf nicht immer gleich lange Abschnitte seines Lebens ein­ge­­teilt, und zu je­dem Teil tru­gen Gäste mehr oder weniger Erheiterndes bei, er selbst kommen­tier­te — gleich­­sam neben sich stehend — vieles aus seinem Leben dis­tanziert kri­tisch-iro­nisch. Doch bei allem, was da auch mal etwas humorvoll-selbst­kritisch klin­gen soll­te, konnten die Gratulanten zuweilen Unzufriedenheit he­raus­hören.

Vor etwa vierzig Jahren, als ich Bee-Jay — so nannten wir ihn früher — in der Ju­gend­­arbeit meiner damaligen Ge­meinde kennen lernte, galt er bald als ein junger Ver­treter eines doch leicht evangelikalen, zumindest konservativen Frömmigkeits­stils. An der Geburtstagsfeier nun konnten meine Familie und ich nicht bis zum Schluss teil­­nehmen, und wir wissen auch nicht, was am Abend dann noch so alles kam, aber bei der Predigtvorbereitung für heute musste ich wieder an diesen Sonn­abend den­­ken. Daran denken, wie der Jubilar auf sein Leben zurückblickte, was er er­­wähnte, was nicht, und mir kam in den Sinn, dass auch Paulus vielleicht an­­läss­lich eines solchen Geburtstags die­sen Teil seiner Epistel hätte verfasst ha­ben kön­nen. Doch halt: Der Verfasser des Timotheus-Briefes ist ja gar nicht Pau­lus. Viel spä­ter erst hat einer seiner Schüler ihm zu Ehren seinen Namen als Pseudo­nym ver­wendet. Aber sein Rückblick — an Stelle des Paulus gedacht — beginnt mit ei­nem Aufblick, einem Aufblick voller Dank und voller Bewunderung: Ich dan­ke un­serm Herrn Christus Jesus, der mich stark gemacht, für treu erachtet und in das Amt eingesetzt hat. Das Aufblicken ist in diesen Zeiten nicht mehr so je­der­manns/­jeder Frau Sache — Kunststück: Zu wem kann man heutzutage schon auf­blicken? Es fällt dann auf, wenn jemand die ganze Zeit — womöglich sozusa­gen be­tre­ten — auf den Boden geschaut hat. Oder gelegentlich seinen Blick beim Lesen vom Manu­skript löst … Aber das ist nicht der Aufblick voller Dank und Be­wun­de­rung! Es hat ihn in der deutschen Geschichte ja immer wieder gegeben, diesen Auf­blick. „Leider!“, müssen wir heute sagen. Das war zwar der richtige Blick, aber das fal­sche Objekt. Nicht Gott, sondern Götze. Ein Goldenes Kalb. Da­bei ist solch Blick doch ein Vertrauensbe­weis. Aber nicht jeder verdient das Ver­trauen. Wir haben vor ei­nigen Jahren diesen Blick oft gesehen, wenn unser kleiner Sohn am Boden krauch­­­te und seine ersten Schritte lernte, oder in letzter Zeit, wenn er auf uns zu­rannte und dabei zu uns hoch schaute. Vielleicht sollten wir alle als Kinder Gottes auch immer wieder so zu unserm himmlischen Vater aufblicken: voller Dank, voller Be­wunderung, vol­ler Ver­trauen.

Voller Dank, weil Gottes Handeln an uns in einem dem Aufblick folgenden Rück­blick umso unbegreiflicher würde. Das Handeln und Wandeln des Paulus wird uns ja als das eines Lästerers und Verfolgers, eines Frevlers und Gewalttäters ge­schil­­­dert. Nicht jedem von uns wird aber von einem Moment zum andern — wahr­lich wie vom Blitz getroffen — klar, wie verheerend sein Handeln bisher war. Viel­leicht ist uns auch deshalb nicht immer die schnelle Einsicht in die Barmherzigkeit und Gnade unseres Heilands, in seine Güte gegeben, wie wir sie doch ohne ei­ge­nes Ver­­dienst empfangen. Denn wenn wir bei Gelegenheit auf unser Leben zu­rück­­­­­blicken — kein Blick zurück im Zorn, aber in bewusster Erinnerung — , dann soll­ten wir se­hen, was da wirklich unvergesslich war. Das ist eben nicht nur all das Schöne, was wir nie vergessen werden, sondern auch manch Hässliches, was andere uns nicht vergessen. Es scheint in der Natur des Men­schen zu liegen, dass Schuld erst erkannt wird, wenn das Ereignis vorbei ist. Dass wir erst später merken, welche Ignoranten wir waren — voller Unkenntnis, voller Un­­fä­higkeit, voller Unglauben und auf der falschen Spur. Wir denken meist eher an ka­putte Existenzen und ihr Leben in der Gosse, an die vielen Verletzungen der gu­ten Sitten, wie wir sie in der Öf­fent­lich­keit wahrnehmen, an die großen Unan­stän­digkeiten vermeintlich großer Leute. Aber wenn uns im Rückblick unsere ei­ge­nen vielen klei­nen Worte und Taten, ge­schwei­ge denn Gedanken des Alltags ein­fie­len, die un­sere Schuld klar machten, dann merkten wir erst, wie viel Barmher­zig­keit uns widerfahren, an uns geschehen ist und wie reich die Gnade unseres Herrn für uns bisher ausgefallen ist.

An dem Punkt angelangt, sollten wir — jeder Einzelne — nicht beim Auf- und beim Rückblick stehen bleiben. Das wäre so, als ob es auch dem Christen eigentlich nur um sich selbst und seine gute Position bei Gott ankäme. Da fehlt dann schon die dritte Komponen­te. So wie Paulus zum Urbild des Sünders geworden ist, der dann mit den Worten seines Schülers erkannt hat, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, um — vielleicht Paulus an erster Stelle stehend, aber anson­s­ten — die Sünder, die Schuldbeladenen zu retten. Der dankbar erkennt, dass an ihm zuerst durch Christi Geduld dessen Barmherzigkeit geschehen ist. So sol­len dann aber alle an Je­sus Christus glauben, um zum ewigen Leben zu gelan­gen. Das heißt, dass die dritte Komponente „der andere“ ist. Um ihn ins Blickfeld zu bekom­men, brauchen wir also nach dem Aufblick zu Gott und dem Rückblick in die eigene Vergangen­heit einen weiteren, einen Panorama- , einen Rundblick. Da­zu gehört dann wohl auch weniger Rückblick als Rücksicht. Aber auch Vor-Sicht! Am An­fang unseres Predigttextes stand auch der Dank für das Einsetzen in das Amt. Nach diesem Einsetzen ins Amt — des Apostels und des Briefschrei­bers, des Bischofs und des Pfarrers, des Diakons und des Kirchenältesten — kommt der Einsatz im Amt. Und da ist nicht die Frage, ob ich Tag und Nacht wach blei­ben und mich ab­rac­kern muss, dass mein Engagement zum schieren Selbst­zweck wird. Sondern dass ich zusehe, mir keine Feind-Bilder aufzubauen. Dass ich den anderen nicht aus dem Blick verliere. Dass ich ihm in die Augen schau­en kann. Und dass ich darauf achte, dass es ihm zusehends besser geht.

Die Vergangenheit und die Gegenwart haben wir bei der Durchsicht unseres Tex­tes im Blick gehabt. Wir haben uns seinen Inhalt durch Aufblick, Rückblick und Rund­blick angeeignet. Und die Zukunft? Dafür gestatten wir uns einen Ausblick. Den Blick auf Unbekanntes. Was unbekannt ist, löst in uns oft Ängste aus. Diese Ängste kann uns kein Mensch nehmen. Wir können sie nur bei dem abladen, der nicht nur al­les geschaffen hat und die Welt in seiner Hand hält, sondern der auch schon die ferns­te, noch so unvorstellbare Zeit in seinem Blick hat: Gott! Ihm gilt der Ausblick im letzten Vers unseres Textes. Dem ewigen König, dem Unver­gäng­­li­chen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewig­keit!

Feiern Sie in absehbarer Zeit auch einen runden Geburtstag? Haben Sie sich vor­ge­­nom­men, demnächst in den Annalen Ihres Lebens zurückzublättern? Soll das dann auch Auswirkung für Ihre Zukunft haben? Es liegt schon eine Reihe von Jah­ren zurück, da hat ein Bearbeiter unseres Predigttextes versucht, mit einem zeit­ge­mäßen Wortlaut die Verse zu einer Lebensüberschrift zu gestalten. Viel­leicht auch zu Ihrer? Jesus Christus hat mir Kräfte gegeben, die ich so nicht gekannt ha­be. Er hat mir Ausdauer geschenkt, die ich selber so nicht hätte. Und er hat mir Aufgaben gegeben, die ich mir selber nicht gesucht hätte. Das hat mein Le­ben verändert. Meine alten Überschriften wie: „Du bleibst, wie du bist!“ oder „Es hat alles keinen Zweck!“ oder „Was kann ein einzelner schon dagegen tun?“, diese Überschriften sind hinfällig. Denn sie sind Aus­druck meines Miss­trauens und meines Unglaubens. Mein Leben ist in Wahrheit reicher, als ich es vorher gesehen habe. Wahrlich und wahrhaftig: Da beginnt mein Glau­be: Jesus hat, wo mein Leben Leiden war, geteilt und geheilt. Er ist mir gegen­über so unendlich geduldig, da sollte ich mit meinem Leben ungeduldig wer­den? Eigenartig — bis jetzt habe ich häufig nur ge­klagt. Und nun gelingt es mir sogar schon, gute Seiten zu entdecken. Das macht mich dankbar. Gott be­stimmt mein Leben — und das Leben dieser Welt. Gott allein sei Ehre und Lob­preis in Ewigkeit.
Amen.

Diakon Michael Koesling